Seit Dezember ist Şenol Keser Integrationsbeauftragter in Dinslaken. In Lohberg war er schon oft. Aber nur zu Sitzungen in Vereinen und Gremien. Auf seinem Spaziergang mit Mittendrin lernt er den Stadtteil von einer anderen Seite kennen – und verrät, woran er sich im Ruhrgebiet noch gewöhnen muss.
Es ist schon lustig in Lohberg. Man sagt ja, der Stadtteil sei ein Dorf, in dem jeder jeden kennt. Was das bedeutet, bekam nun auch der neue Integrationsbeauftragte Şenol Keser zu spüren. An einem Mittwochnachmittag im April hat er sich Zeit für einen Spaziergang mit der Mittendrin-Redaktion genommen.
Der Stadtteil – ein Dorf
Selbst großzügig bemessene zwei Stunden reichen nicht aus dafür. Denn alle paar Meter treffen wir jemanden und man beginnt zu schnacken. Wie das eben so ist in einem Dorf. Auf dem Marktplatz läuft uns zunächst die Gleichstellungsbeauftragte Karin Budahn-Diallo über den Weg. Wenig später begegnen wir an der Grundschule einem lustigen Fahrradfahrer. Wenige Meter weiter Remzi Ugur vom Forum Lohberg. Murat Bas von der Eisdiele an der Dorotheenstraße. Und kurz vor dem Ende treffen wir am Ledigenheim auch noch Ulrich Kemmerling vom Kraftwerk Lohberg.
Lohberg und sein schlechter Ruf
Der gebürtige Ost-Westfale Keser sortiert währenddessen die Eindrücke und macht sich sein Bild von diesem Stadtteil. Dem traditionell miesen Ruf, der Keser schon vor seiner Zeit in Dinslaken zu Ohren gekommen ist. Und seinen oftmals so liebenswerten Bewohnern.
Vor Beginn unseres Rundgangs treffen wir uns mit ihm zu einer Tasse Kaffee auf dem Marktplatz. Mittendrin hat sich mittendrauf mit einem Campingtisch breitgemacht. Wir üben Aufenthaltsqualität. Und probieren dabei aus, wie sich ein Johannesplatz mit Bistro, Außengastronomie und Atmosphäre so anfühlt. Der erste Eindruck: durchaus angenehm. Aber mit viel Luft für weitere Ideen, die den Platz zu einem attraktiven Ziel machen könnten.
Vier Monate ist Keser inzwischen in Dinslaken tätig. Am Anfang steht Kennenlernen auf dem Programm. Das heißt: Gremien besuchen, Leute kennenlernen, den Austausch suchen, Vertrauen aufbauen.Und dann wieder: Gremien, Leute, Austausch. „Mit etwa 200 habe ich persönlich gesprochen“, entgegnet Keser nach kurzem Zögern auf die Frage, wie viele Menschen er denn inzwischen so kennengelernt habe.
Ungewöhnlich viel Engagement
Aufgefallen ist ihm, wie viel Menschen im kleinen Lohberg sich in irgendeiner Form engagieren. „Das ist bemerkenswert, gerade im Vergleich zu größeren Städten“, sagt Keser. Die Vielzahl an Ideen, Gruppierungen und Initiativen beeindruckt ihn. „Hier ist schon recht viel los.“ Manchmal falle es ihm noch schwer, das alles auseinanderzuhalten. „Egal wo ich bin, es kommt immer eine neue Initiative oder ein neuer Verein dazu, bei jedem Gespräch etwas Neues“, sagt Keser mit einem Schmunzeln im Mundwinkel.
Der Integrationsbeauftragte – das wird jetzt schon deutlich – muss sich seine Zeit gut einteilen, wenn er neben dem Pflegen von Kontakten noch etwas anderes auf den Weg bringen will. Am Anfang aber, das ist ihm wichtig, steht das Zuhören. „Jetzt müssen wir doch erst mal Vertrauen aufbauen, gegenseitig, mit kleineren Projekten oder Kooperationen und dann sehen wir, dass wir darauf aufbauen. Im Moment höre ich mich aber erst mal um und frage, wo ich helfen kann und wo es Bedarfe gibt.“
„Das kenne ich aus Bielefeld nicht“
Gänzlich unaufgefordert hebt er hervor, wie sehr ihm die Kontaktfreude der Menschen im Ruhrgebiet gefällt, auch wenn er sich erst daran gewöhnen musste. Man muss dazu sagen, dass Keser aus Ostwestfalen-Lippe stammt, einem Landstrich, dessen Menschen nicht unbedingt für ausufernden Redebedarf bekannt sind. Jetzt wird ihm viel abverlangt. „Die Menschen sind viel kommunikativer“, sagt Keser. „Hier kommt man einfach so ins Gespräch, das kenne ich aus Bielefeld nicht. Und dann wirst du hier im Ruhrgebiet viel öfter und schneller in Gesprächen geduzt, daran muss ich auch erst noch gewöhnen.“ Die Zusammenarbeit erleichtere das aber auf jeden Fall enorm.
Was für ein Mensch ist Şenol Keser? Beim Treffen auf dem Johannesplatz wirkt er wie die Ruhe selbst. Was er von sich preisgibt, passt ins Bild. In der Familie sei er dafür bekannt, dass ihn so schnell nichts auf die Palme treibe. Bei der Arbeit pflege er einen gewissen Hang zum Perfektionistischen, gesteht er ein. Außerdem sei ihm Pünktlichkeit wichtig. Das aber bedeutet keineswegs, dass er für spontane Dinge unzugänglich wäre. Wir können das bestätigen. Schon im Oktober hatte er bei einem Vortreffen für das Frühlingsfest ohne viel Tamtam einen Beitrag zu einer Videoumfrage von Mittendrin geleistet und einen Ruhrpottspruch in die Kamera gerufen („Mama, hol mich vonne Zeche!“) – und das als Ost-Westfale!
Die innere Ruhe habe er möglicherweise dem Karatesport zu verdanken, überlegt Keser. Früher war er als Trainer tätig und leitete Kinder an. Auch jetzt nach dem Umzug hat er sich bereits nach einem neuen Verein umgesehen. „Karate hat mich tatsächlich für mein Leben geprägt“, resümiert er. Schon als er selbst ein Kind war, bekam er die Kraft der fernöstlichen Kampfkunst zu spüren. Damals sei er ein sehr unruhiger, zappeliger Junge gewesen. Man mag das kaum glauben. Şenol Keser – in seiner Kindheit ein Rabauke?
„Du glaubst es erst mal nicht, aber Karate ist tatsächlich ein Sport, der die Kinder zurück auf den Boden holt“, erzählt Keser. Das sei auch ihm damals so ergangen. Mit den Karatefilmen aus dem Kino habe der Sport kaum etwas zu tun. Es gehe vielmehr um Disziplin, Respekt vor dem anderen, Konzentration auf das Wesentliche. So wie wir ihn bei unserem Treffen erleben, hat Keser diese Eigenschaften dauerhaft verinnerlicht.
Einiges in Lohberg hat ihn ziemlich überrascht
Einmal unterwegs, wechseln wir die Themen. Es geht um die Belebung des Johannesplatzes, sein Ankommen in einer Stadtverwaltung, die Tradition von Zeche, Zusammenhalt und Fußball oder die Entwicklungen in Neu-Lohberg. Wir erkundigen uns nach den Eindrücken, die er jenseits der Sitzungsräume von Lohberg gewonnen hat. Einiges, so erzählt Keser, habe ihn doch sehr überrascht. Wie grün die Gartenstadt ist zum Beispiel. Wie schön die alten Häuser und wie krass der Unterschied zu den neueren Bauten.
Aufgefallen ist ihm auch der Umgang der Lohberger untereinander. „Das merke ich schon, wie familiär-freundschaftlich das Verhältnis unter den Leuten ist. Konnte man ja vorhin auf dem Marktplatz sehen, wie viele Menschen unterwegs sind, stehenbleiben und mal kurz die Neuigkeiten austauschen. In einer Großstadt gibt es das eher seltener.“
Was denn Integration für ihn ausmache, wollen wir auf den letzten Metern zwischen Fischerbusch und Haldenstraße noch wissen. Und landen prompt bei einem weit verbreiteten Missverständnis. „Es geht doch um Teilhabechancen!“, sagt Keser. „Integration verstehe ich als eine Aufgabe, an der sich alle Gruppen der Gesellschaft beteiligen. Und eben nicht nur die mit dem so genannten Migrationshintergrund.“
Was der neue Integrationsbeauftragte vorhat
Erste Projekte, berichtet Keser, seien in seinem Bereich bereits in der Mache. So sei das Interesse an einem Erste Hilfe Kurs bei Migranten und Geflüchteten sehr groß gewesen. Zudem wolle er eine medienpädagogische Zusammenarbeit mit jungen Geflüchteten auf den Weg bringen. Dann aber nicht mit Bad News, sondern Good News. Die bestehenden bewährten Projekte werde er zudem weiterführen und vorantreiben, unter anderem die muslimische Seelsorge in den Krankenhäusern.
Şenol Keser hat viel vor in Dinslaken. Ein großer Teil seiner Arbeit, so viel ist an diesem Nachmittag deutlich geworden, besteht in der Pflege von Kontakten und dem regelmäßigen Austausch. Es geht dabei auch um Vertrauen. Allein, um auch Gespräche über schwierige Themen führen zu können. Wenige Tage vor dem Treffen mit Keser hat NRW-Integrationsminister Joachim Stamp angeregt, ein Kopftuchverbot für Mädchen unter 14 einzuführen. Der neue Bundesinnenminister Horst Seehofer spricht davon, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre.
Die Islam-Debatte im Gepäck
Das löst natürlich auch in Lohberg Bedenken aus. Die Stimmung war schon mal besser. Manche konfrontieren dann Keser mit ihren Sorgen. Doch auch wenn das seine Arbeit erschwert, findet er es gut und richtig, schwierige Themen anzusprechen. Auch um andere Sichtweisen kennenzulernen, das könne einem nämlich die Augen öffnen.
Ein Stück weit gilt das sicher auch für diesen Nachmittag. Der neue Integrationsbeauftragte hat Lohberg und seine Menschen heute nochmal von einer andere Seite kennengelernt. Er wird nicht das letzte Mal im Stadtteil unterwegs gewesen sein.
Zum Abschluss unseres Treffens hat Şenol Keser sich spontan bereit erklärt, noch drei Fragen ohne Worte zu beantworten. Das Format erfunden hat das Magazin der Süddeutschen Zeitung. Unter dem Titel „Sagen Sie jetzt nichts“ fördert es immer wieder sehr schöne Ergebnisse zu Tage.