An diesem Donnerstag ist es genau 50 Jahre her, dass Necati Cuhaci auf der Zeche Lohberg seine Ausbildung zum Knappen begann. In Istanbul war er dafür allein in den Zug nach Deutschland gestiegen. Die Bundesrepublik warb damals um Gastarbeiter. Wie so viele ist Necati geblieben und ein Teil dieses Landes geworden. Mittendrin hat er seine Geschichte erzählt.
In diesem Oktober wird in Deutschland ein besonderer Jahrestag gefeiert: 60 Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland. Was als nüchterner Vertrag begann, veränderte das Leben von Tausenden. Etliche Lohberger haben miterlebt, was es hieß als sogenannter Gastarbeiter nach Deutschland zu kommen.
Eine Bleibeperspektive gab es nicht. Die junge Republik brauchte dringend Arbeitskräfte, aber bitte nur vorübergehend. Dass diese bald ein prägender Teil von Deutschland werden würden, hatte kaum jemand auf dem Schirm, geschweige denn geplant. Die meisten jungen Männer aus der Türkei kamen in der Gewissheit, erstmal ein paar Jahre gutes Geld zu verdienen, um dann wieder in die alte Heimat zurückzukehren.
Zwei Lebensgeschichten
Stattdessen blieben sie in Lohberg, ihrer neuen Heimat. Zwei dieser Männer haben wir getroffen. Beide haben uns ihre Geschichte erzählt. Im heutigen ersten Teil geht es um Necati Cuhaci, der als 16-Jähriger in eine dreijährige Ausbildung an die Zeche Lohberg wechselte. Später, in Teil zwei, lassen wir dann Fevzi Tas erzählen, der auf der Suche nach einem sicheren Einkommen für seine Familie als Akkordarbeiter in Wesel landete – und seit mehr als 25 Jahren einen deutschen Pass sein eigen nennt.
Necati Cuhaci ist 65 Jahre alt. 50 davon hat er mit harter Arbeit in Deutschland verbracht, mehrere davon im Bergbau unter Tage. „Ich wollte eine gute Ausbildung und mir damit beruflich etwas aufbauen“, erinnerte er sich an die folgenreiche Entscheidung im Jahr 1971. Damals hatte er gerade die mittlere Reife absolviert und musste sich überlegen, wie es weitergehen sollte.
Die gute Schulausbildung war sein Eintrittsticket nach Deutschland. Die Zeche suchte damals Arbeitskräfte mit Perspektive und bildete dafür auch aus. In der Türkei wurden dafür vielversprechende junge Männer angeworben. Necati war 16 Jahre alt, als er gemeinsam mit seiner Familie den Entschluss fasste, diesem Ruf zu folgen. Eine Ausbildung im deutschen Bergbau – das hatte einen guten Ruf und versprach beste berufliche Chancen. Das Zeugnis hat er mitgebracht. Dort steht es schwarz auf weiß: Ausbildungsbeginn am 28. Oktober 1971.
Deutsch-Unterricht im Rahmen der Ausbildung
Es folgten drei harte Lehrjahre. Untergebracht war Necati Cuhaci zusammen mit drei anderen türkischen Mitbewohnern bei einer deutschen Gastfamilie im Pestalozzi-Dorf. Zwei Zimmer, zwei Betten, um das Essen und die Wäsche kümmerte sich die Familie. In der Ausbildung lernte er auch die deutsche Sprache. Zweimal in der Woche gab es Unterricht, dazu der ständige Kontakt mit der Gastfamilie.
„Wir hatten ein gutes Leben“, erzählt er. „Es gab keine Probleme, wir haben uns wohlgefühlt“, erinnert er sich und schaut auf die alten Schwarz-Weiß-Bilder aus den frühen 70ern. Cool sehen er und seine Freunde darauf aus. Föhnwelle, Schlaghose, Piloten-Sonnenbrille. Sie sehen aus wir junge Männer, denen das Leben zu Füßen liegt. Etwa 50 waren sie, allesamt untergebracht im P-Dorf.
Die Bilder vom Schacht wirken nicht mehr ganz so fröhlich. Nach drei Jahren Ausbildung ging es direkt als Knappe unter Tage. Für Necati Cuhaci eine wegweisende Zeit. Denn mit der Entscheidung für die Arbeit auf der Zeche sollte auch seine kleine Familie nach Deutschland kommen. Schon mit 18 hatte er nach alter Familientradition früh geheiratet, war Vater geworden. Frau und Kinder lebten in Artova, 3340 Kilometer entfernt in der Türkei. „Ich habe die Kinder nicht gesehen“, sagt er nüchtern. Die Säuglingsmonate seiner ersten beiden Kinder, ihre ersten Worte und Schritte, all das geschah weit weg.
Das sollte sich ändern. Die Familie folgte ihm nach Lohberg, sechs Kinder sind es insgesamt geworden. Der Vater sorgte für das Einkommen, arbeitete zunächst acht Jahre auf der Zeche, danach wechselte er zum DIN-Service. Statt Kohle zu schaufeln, reinigte er die Sinkkästen und hielt das Kanalnetz am Laufen.
Sehr stolz ist er auf seine Kinder. Fünf von ihnen sind wie die Eltern in Deutschland geblieben. Einer seiner Söhne arbeitet inzwischen ebenfalls bei der Stadt, eine seiner Töchter unterrichtet Deutsch an einer Schule in Bochum. Sie haben es zu etwas gebracht.
„Nach meiner Ausbildung war für uns klar: Wir wollten in Deutschland leben“, sagt Necati. In der Gegenwart. Und in der Zukunft. Auch seine zehn Enkelkinder sind ein Teil Deutschlands. Die Heimat kann sich verlagern, die Familie bleibt. „Du sprichst nicht so gut Deutsch wie ich“, hat ihm eines der Enkelkinder kürzlich auf dem Heimweg vom Kindergarten unter die Nase gerieben. Auch auf sie ist Necati mächtig stolz.