Sieben Jahre wartete Fevzi Taş. Dann endlich wurde sein Antrag genehmigt und er durfte als Gastarbeiter nach Lohberg kommen. Er arbeitete im Akkord, um die Familie zu ernähren. Inzwischen hat er einen deutschen Pass. Teil zwei unserer Gespräche mit Menschen, die als Gastarbeiter kamen um zu bleiben.
Im Oktober 2021 wurde in Deutschland ein besonderer Jahrestag gefeiert: 60 Jahre Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und Deutschland. Was als nüchterner Vertrag begann, veränderte das Leben von Tausenden. Etliche Lohberger haben miterlebt, was es hieß als sogenannter Gastarbeiter nach Deutschland zu kommen.
Eine Bleibeperspektive gab es nicht. Die junge Republik brauchte dringend Arbeitskräfte, aber bitte nur vorübergehend. Dass diese Menschen bald ein prägender Teil von Deutschland werden würden, hatte kaum jemand auf dem Schirm, geschweige denn geplant. Die meisten jungen Männer aus der Türkei kamen in der Gewissheit, erstmal ein paar Jahre gutes Geld zu verdienen, um dann wieder in die alte Heimat zurückzukehren.
Zwei Lebensgeschichten mittendrin
Stattdessen blieben sie in Lohberg, ihrer neuen Heimat. Zwei dieser Männer haben wir getroffen. Beide haben uns ihre Geschichte erzählt. Vor ein paar Tagen ging es um Necati Cuhaci, der als 16-Jähriger in eine dreijährige Ausbildung an die Zeche Lohberg wechselte. Im heutigen zweiten Teil lassen wir Fevzi Taş erzählen. Auf der Suche nach einem sicheren Einkommen für seine Familie landete er als Akkordarbeiter in Wesel – und nennt seit mehr als 25 Jahren einen deutschen Pass sein eigen.
Fevzi wurde in Kars geboren. Das liegt weit im Osten der Türkei, fast auf dem Längengrad von Bagdad. Seine Eltern waren Landwirte. Er hat noch erlebt, wie die Ochsen den Pflug zogen und die Menschen mit dem auskommen mussten, was die Ernte hergab. Aufgewachsen ist er in den 40er Jahren. Sein Geburtsjahr: 1944.
Keine Rückkehr zurück aufs Land
Als junger Mann suchte er eine Perspektive. Schnell stand fest: Er wollte ein anderes Leben führen. Und verpflichtete sich beim Militär, ging dafür nach Ankara. Fevzi gründete eine eigene Familie. 1967 wurde er zum ersten Mal Vater. Von Anfang an war klar: Die Zeit beim Militär würde nicht von Dauer sein. Und auch eine Rückkehr aufs Land war keine Option.
Schon frühzeitig bewarb er sich darum, nach Deutschland gehen zu dürfen. Damals war in der Türkei in aller Munde, dass man in Almanya mit ehrlicher Arbeit gutes Geld verdienen könnte. Doch Fevzi musste sich in Geduld üben. „Ich hatte keine Ausbildung und war ja lange nicht der einzige, der nach Deutschland wollte. Sieben Jahre nach dem ersten Antrag hat es dann geklappt. Ich war 29 Jahre alt“, blickt er zurück.
Dann kam das Leben dazwischen
1973 fand er eine Unterkunft in Lohberg und einen Arbeitsplatz bei Keramag in Wesel. Ein Fließband-Job. Produktion von WC-Steinen im Akkord. Warum er nicht in die Nähe des Jobs nach Wesel zog? Für ihn stellte sich die Frage nie. „In Lohberg gab es von Anfang an einen sehr engen Zusammenhalt, das war wie in einer Familie“, erinnert er sich. Hier wollte er nicht auch noch weg.
Sein Plan zu dieser Zeit: Drei bis vier Jahre Deutschland, dann mit etwas Geld auf dem Sparbuch zurück in die Türkei. In diesen Erwartungen, wie es weitergehen würde, waren sie sich einig, die Deutschen und die „Gastarbeiter“ aus der Türkei.
Aber wie sagte der Schriftsteller Max Frisch schon mit weiser Voraussicht in den Sechzigern? „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ So war es auch bei Fevzi und seiner Familie. 18 Monate hielt der Ehemann und damals vierfache Vater es allein in Deutschland aus, dann holte er seine Frau und die Kinder nach. Auch zu diesem Zeitpunkt, Ende 1974, noch in der Annahme, dass es ein paar Jahre später wieder zurück in die Türkei gehen würde. Doch dann kam das Leben dazwischen.
Die Zukunft klärt sich von allein
„Die Kinder gingen in die Kita, in die Schule und nach wenigen Jahren sprachen alle um mich herum nur noch Deutsch“, erzählt der 77-Jährige und schmunzelt, während er mit den Achseln zuckt. Da wurde ihm klar: Die Zukunft seiner Kinder und damit die der Familie liegt in Deutschland.
So kam es dann auch. Seit 1995 besitzt Fevzi einen deutschen Pass. Das lag nicht nur an der neuen Heimat, sondern war auch eine ganz praktische Erleichterung. „Ich hatte keine Lust mehr, ständig eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen zu müssen und ins Konsulat zu fahren“ sagt Fevzi. Schwer gefallen sei ihm der Wechsel der Staatsbürgerschaft nicht. „Gar kein Problem“, meint er.
Und ist sich in einer Sache zu hundert Prozent einig mit unserem ersten Gesprächspartner, Necati Cuhaci: „Heimat ist dort, wo die Familie ist.“